Ich bin mit illegalen Downloads erwachsen geworden. Ich bereue nichts. Manchmal vermisse ich es sogar.
Mein Interesse an Musik erwachte, wie bei vielen in meiner Generation geborenen, mit Eurodance – eingängige, von Frauen gesungene Refrains mit simplen Botschaften, harten Techno-Beats und sinnlosem gerappten Kram. 1998 schließlich war ich 15 und mein Musikgeschmack erfuhr eine Disruption. Das nicht nur, weil zu dieser Zeit Eurodance endgültig seine letzten röchelnden Atemstöße von sich gegeben hatte.
Mein Klassenkamerad Hajo gab mir irgendwann 1998 eine CD-ROM. Darauf war eine Abspielsoftware namens Winamp und Musik – jede Menge Musik. Welche das war, weiß ich nur noch schemenhaft. Lou Bega war dabei, Madonna, Emilia und ein ganzes Album von Fettes Brot. So durchwachsen das in geschmacklicher Hinsicht klingt – was zählt, ist, was diese CD bedeutete. Denn sie enthielt gleich mehrfach so viel Musik, als nach meinem jugendlichen Verständnis eigentlich möglich gewesen wäre – nicht 70 Minuten, sondern eher 10 Stunden. Außerdem raunte mir Hajo zu: Die Musik habe er sich aus dem Internet runtergeladen.
Bitte was? Laber mal. Eine CD hat hunderte MB, wie soll sowas gehen?
Das Zauberwort hieß MP3.
MP3 hat alles verändert – auch mich
Dieses neue Dateiformat konnte Audioinhalte, also zum Beispiel Musik, auf ein Zehntel ihrer Dateigröße komprimieren, ohne dass ein „normales Ohr“ einen Unterschied zu CD-Qualität erkennen konnte. Eine Minute Musik wurde so von rund 10 auf 1 MB eingedampft. Damals war das pure Magie für mich, heute weiß ich, dass da raffinierte psychoakustische Kompressionsalgorithmen am Werk waren, deren Entwicklung viele Jahre gedauert hat.
Dank dieser so geschrumpften Dateigrößen konnte man Musik im Netz teilen. Das war deswegen wichtig, weil damals die Kosten fürs Internet noch nach Minuten abgerechnet wurden. Einen normalen Song von rund 4 MB Größe lud man über damals gängiges 56k-Analogmodem-Geschwindigkeit in rund 15 Minuten herunter. Ein Zeitraum, der genau an der Schwelle zwischen „einfach mal saugen“ und „hierfür ist Commitment nötig“ lag. Ich fing jedenfalls sofort Feuer. Schon bald durchforstete ich stundenlang dubiose Seiten, die einzelne Lieder zum Download zur Verfügung stellten.
Problem: Die Dateien lagen oft bei kostenlosen Webspace-Anbietern wie GeoCities, Xoom und Angelfire, auf denen man eigentlich private Homepages parken sollte. Die Anbieter merkten natürlich flugs, wofür ihr Angebot missbraucht wurde. Sie sperrten kurzerhand den Webspace für MP3-Files. Die Piraten ersonnen daraufhin immer neue Methoden, um die Tarnung zu umgehen: MP3s vorher zippen oder mit WinRAR packen, dann die Dateiendung auf VIV ändern und so weiter. Indirekt war das die Idee der später so erfolgreichen One-Click-Hoster wie Rapidshare und Megaupload, genauso ein Vorbote des Katz-und-Maus-Spiels, das bis heute zwischen Piraten und Content-Industrie gespielt wird.
Dann kam Napster – und änderte noch einmal alles.
MP3 und Napster waren Totengräber für eine aufgeblähte Musikindustrie
Napster, die Mutter aller Tauschbörsen. Ein Programm, über das jeder User MP3-Dateien vom eigenen Rechner anderen Nutzern zur Verfügung stellen konnte. Napster verband alle Nutzer zu einem gigantischen Musik-Tauschring. Und das hatte Folgen: Noch nie war es einfacher, an Musik zu kommen. Der Download von MP3s war keine esoterische Netz-Nische mehr, sondern Mainstream. Plötzlich stand nicht mehr nur einiges, sondern alles zur Verfügung. Selbst Musik, die es nicht in den Läden gab, Bootlegs von ganzen Konzerten, oder gar Musik, die noch gar nicht offiziell veröffentlicht war.
Das Beste an Napster: Man konnte mit anderen Nutzern chatten und deren MP3-Ordner durchsuchen.
Damals war Musik noch Ausdruck von Persönlichkeit und Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur. Wer Tracks einer unbekannten Berliner Indie-Kapelle runterlud, wurde angequatscht: Hey, du kennst die auch? Was ist dein Lieblingssong? Warste auf dem Konzert? Und so weiter. Das war sinnvoll, ohne Chat und die Suche im Musikarchiv der anderen User hätten wir schließlich stundenlang vor diesen flackernden Röhrenmonitoren gesessen und nur Download-Balken angestarrt.
Napster hatte einen zentralen Server, der für die Suchfunktion und die Weitervermittlung von Download-Anfragen zuständig war. Die Musikindustrie setzte alles daran, den Napster-Server vom Netz zu kriegen. Ohne den funktionierte schließlich die Software für keinen Nutzer. Zwar hatte sie damit irgendwann Erfolgm, die Büchse der Pandora war jedoch schon geöffnet.
Auf Napster folgten Kazaa, AudioGalaxy, WinMX, Soulseek, Gnutella, Limewire, eDonkey und eMule, schließlich BitTorrent, Usenet und die One-Click-Hoster. Technisch entwickelten sich die Piraterie-Szene weiter, fand immer neue und bessere Wege zum Dateitausch. Auch die Art der getauschten Medien erweiterten sich. Man konnte dort schließlich auch Filme, Serien, Software, Games und andere Inhalte downloaden – das geht teilweise auch heute noch.
Die letzten 25 Jahre Technik und Games im Schnelldurchlauf:
Die Nachfolger von Napster lernten aus dem Fehler des P2P-Urvaters. Sie verzichteten auf zentrale Strukturen und wurden dadurch weniger angreifbar. Auch die Up- und Download-Geschwindigkeiten wuchsen Mitte der Nullerjahre dank wachsender Bandbreiten immer mehr. Darunter litt die Industrie, vor allem Musik und Software. Die goldenen Neunzigerjahre, in denen man mit allem, auch dem größten Müll richtig viel Geld machen konnte, waren endgültig vorbei.
Nach Jahren der Krise akzeptierte die Musikindustrie endlich, dass Musik aus dem Netz gekommen war um zu bleiben, dass die Kriminalisierung von Jugendlichen keine Lösung für das Problem war und man mit eigenen Diensten durchaus eine Chance gegen die illegale Konkurrenz hatte, sofern diese legal und komfortabel waren. Der iPod, iTunes und später Streaming-Angebote wie Spotify schafften es, wieder viele leidenschaftliche Downloader aus der Grauzone in sichere legale Häfen zurückzubringen.
Was bleibt
Die späten Neunziger und die frühen Nullerjahre waren eine musikalisch prägende Zeit für mich – ohne P2P-Filesharing, das wir damals als unschuldigen Freizeitspaß, nicht als kriminelles Handeln empfanden, wäre diese so nicht möglich gewesen. Endlich war ich nicht mehr Radio und Musikfernsehen als fremdgesteuerte Erkundungsmedien ausgeliefert. Was ich mochte, lud ich runter – oft war es aber auch andersrum: Ich lud herunter und entschied dann, ob ich es mochte. „Mitnahmementalität“, mag da mancher murren. Aber ich habe in der Zeit eben nicht nur wie ein Bekloppter Musik aus dem Netz gesaugt, sondern habe wegen dieser Downloads auch mehr Musik auf CDs gekauft und war auf mehr Konzerten als viele andere in meiner Alterskohorte. Mein Horizont hat sich erweitert, ich war Teil einer Jugendbewegung. Das vermisse ich.
Die illegalen Kinder und legalen Enkel von Napster konnten den Charme dieser frühen Zeit für mich nicht mehr einfangen. Heute habe ich Spotify und YouTube Music abonniert, theoretisch könnte ich auch auf Amazon Music zugreifen – glaube ich zumindest. Ich entdecke immer noch gerne Musik, aber die Art, wie ich sie höre, hat sich geändert. Weg vom Album, hin zur Playlist. Weg vom Genre, hin zur Stimmung. Weg von der Empfehlung, hin zum Algorithmus. Weg vom Fansein, hin zum Hintergrund-Teppich. Lieder, die mir nicht sofort gefallen, skippe ich, anstatt sie mir zu „erarbeiten“. Schade eigentlich.
Aber ein Stück weit prägt mich die MP3-Revolution bis heute. Ein lokales Archiv meiner liebsten Medien zu haben ist mir bis heute wichtig – schließlich weiß man ja nie, auch Spotify hat ja so seine Lücken. Und wer weiß – vielleicht ist unter all den Dateien auf meiner Festplatte ja tatsächlich noch irgendwo das Lou-Bega-MP3 von Hajo.
Mehr aus den letzten 25 Jahren Technik, Games und Kultur mit GIGA findet ihr hier: