Getting Over It wird euch verändern. Das besondere Geschicklichkeitsspiel ist simpel, aber erbarmungslos. Es wird euch viel über eure Psyche und eure Persönlichkeit als Gamer verraten. Wenn ihr dachtet, Dark Souls bringt euch zur Weißglut, habt ihr sicherlich noch nie den wahren Gamer-Schrecken gespielt.
Getting Over It ist Qual und Liebe zugleich
Wenn ihr Getting Over It with Bennett Foddy das erste Mal unwissend startet, erwartet euch eine ruhige, einfache 2D-Oberfläche und ein Mann in einem Eimer mit Schlaghammer.
Mehr braucht das Spiel nicht, um eine unvergessliche Gaming-Erfahrung zu bieten. Obwohl – die Möglichkeit an jedem beliebigen Punkt des Spiels den gesamten Fortschritt zu verlieren, ist wohl die wahre Stärke und Pein des Spiels.
In Getting Over It gilt es einen Berg von unbekannter Größe zu erklimmen, um am Gipfel die verheißungsvolle Aufgabe zu vollenden: Ja, was eigentlich? Ankommen. Der Weg ist das Ziel – ihr wisst schon.
Der Berg, den ihr mit Hammer bewaffnet besteigen müsst, türmt sich dabei aus Unmengen an Müll, willkürlichen Gegenständen und einem verhöhnenden Kind auf einer Rutsche auf.
Zum Klettern nutzt ihr nur eine Hand und eure Maus – übrigens sehr ungewohnt, die Finger von den WASD-Tasten fernzuhalten. Mit der Bewegung der Maus simuliert ihr das Schwingen mit eurem Hammer, den eure beizeiten schwitzende Figur in den Händen hält.
Erzählerisch wird euer Aufstieg von einer angenehmen Stimme (die gehört übrigens dem sadistischen Entwickler Bennet Foddy) begleitet, die eure Errungenschaften oder Fehtritte mal triumphierend, mal spöttisch kommentiert. Oder ein die Situation zusammenfassendes Lied abspielt.
Für die Kommentare wird sich oftmals an Zitaten großer Dichter und Denker bedient – was übrigens ein tolles Stilmittel ist und die eigentlich ruhige Atmosphäre des Spiels gekonnt unterstreicht.
Die Gelassenheit und Neutralität die diese Stimme dabei aber immer wieder an den Tag legt, wird euch in hitzigen Wutmomenten noch mehr an den Rand des Wahnsinns treiben, vertraut mir.
Freundet euch also mit dem Gedanken an, wütend zu werden. Selbst die besonnensten Persönlichkeiten werden die Tücken des Spiels hassen lernen und Fluchen ist ein probates Mittel, um seinen Frust irgendwie rauszulassen.
In meinem Livestream mussten sogar Möbelstücke unter meiner Wut leiden, wie dieses Twitch-Video beweist:
Doch neben den verzweifelnden Momenten hat Getting Over It einen Charme, eine Magie, eine Art, die ihresgleichen sucht.
Denn wenn ihr euren Weg mit Schwingen, Ziehen und Springen über den verwinkelten und unvorhersehbar gestalteten Berg bestreitet, wird euch immer wieder etwas über eure eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen bewusst.
Eine Blaupause für das Scheitern
Das Spiel versteht es sehr gut, eure Einstellung zum Scheitern auf die Probe zu stellen und euch geschickt zu zeigen, wie ihr damit umgeht.
Immer und immer wieder. Wie eine Lektion, die es immer wieder zu meistern gilt, jedes Mal in einem neuen Gewand. Bis ihr sie lernt. Oder eine neue, schwerere Herausforderung folgt.
Steht ihr das erste Mal vor einer neuen Passage des Aufstiegs, dauert es mitunter mehrere Minuten, Stunden (oder bei besonders müdem Zustand auch Tage) bis ihr diese hinter euch gebracht habt.
Fallt ihr danach wieder an einen früheren Punkt zurück und müsst die zuvor mächtige Passage nochmal erklimmen, wundert ihr euch schon bei einem Zweitversuch, wie ihr nur so lange an der Stelle habt scheitern können. Die ist doch so einfach!
Das clevere Leveldesign und die unbarmherzige Physik in Getting Over it schaffen es, ständig neue Lernprozesse anzustoßen – ohne jegliche Anleitung oder Hilfe.
Eine enge Schlauchpassage zwingt euch zum Beispiel, das perfektionierte Schwingen und Ziehen zu überdenken und eine neue Methode mit eurem Hammer zu finden.
Schieben und Stoßen werden eure neuen Freunde – und sind die Bewegungen in Fleisch und Blut übergegangen, ist die zuvor unbezwingbare Schlauchpassage ein Leichtes.
Auf dem steinigen – und fast ewigen – Weg an die Spitze, versucht euch das Spiel auch zuweilen mit verführerischen Fallen zu ködern. Auch diese werden euch überraschende Aha-Momente über euer Wesen bescheren.
Nicht umsonst ist das Kletter-Abenteuer bei Steam mit dem Tag „Psycho-Horror“ versehen. Die philosophischen Kommentare des Erzählers reiben euch eure Probleme auch immer wieder unter die Nase.
Ohne Frage, bei Getting Over It geht es rein handwerklich nicht um viel mehr als Geschick und Taktik, doch der Rahmen, der diese einfachen Mechaniken umgibt, macht das Spiel zu einer erstrebenswerten Probe, die jeder Gamer und jede Gamerin in ihrem Leben einmal gemacht haben muss.
Getting Over It reiht sich mit Leichtigkeit in die Bilderstrecke der schwersten Spiele ein:
Ich verspreche euch, es wird ein individuelles und aufregendes Erlebnis und der Aufstieg zum Gipfel wird sich lohnen. Euch erwartet eine einmalige Überraschung. Wer also die Bezwingung von Dark Souls für eine stolze Auszeichnung hält, sollte einmal Getting Over It überwinden.
Und auch wenn das Spiel Dark Souls sowohl in seiner pompösen Optik und Atmosphäre, als auch in seiner Komplexität niemals das Wasser reichen kann, ist es dem Spiel in seinem Wesen doch sehr ähnlich und schickt euch mit einer wichtigen Lektion nach Hause. Viel Spaß beim Scheitern!