Mit dem Start von WoW Classic liebäugelte ich ebenfalls mit dem Gedanken, wieder in diese umfassende Welt einzutauchen, doch hält mich der bittersüße Schmerz der Vergangenheit davon ab.
Als World of Warcraft damals im Jahre 2005 seine Pforten öffnete, führte mein Bruder mich mit seinem Test-Account zum allerersten Mal an die Welt von Azeroth heran. So durchforstete ich unter dem identitären Deckmantel meines Bruders etliche Stunden das bunte Anfangsgebiet der Tauren (ein kuhähnliches Volk in WoW), bekämpfte eberähnliche Kreaturen und knüpfte zarte Bande mit zufälligen Mitspielern, die auf derselben Mission waren wie ich.
Alles war aufregend, alles war neu und es war ein Leichtes, sich von dieser Welt für Stunden in den Bann ziehen zu lassen.
Die soziale Komponente des Klassikers, in der jede zufällige Begegnung mit einem echten Mitspieler unerwartete Geschichten schreiben konnte - ob lustig, herzlich, bizarr oder vielleicht sogar gemein (wenn ein anderer Spieler dir Mobs für deine Quest wegschnappt, würg), waren für meine Wenigkeit immer ein wesentlicher Faktor für den ewig währenden Spielspaß.
Ich wurde auserwählt und folge dem Ruf
Eines unschuldigen Tages, als ich in der Hauptstadt Dalaran als Blutelf-Jägerin dahinvegetierte und in den Briefkasten blickte, erhielt ich einen schicksalsverändernden Brief. In diesem befand sich eine Einladung zu der Gilde Veritas et Aequitas von einer Person namens Zoû (Gruß geht raus!), deren Ruf ich folgen sollte.
Bis zu diesem Zeitpunkt, wir befinden uns chronologisch auch schon in der dritten Erweiterung Wrath of the Lichking, hatte ich WoW zumeist im Alleingang oder besser gesagt, ohne höheren Anspruch genossen.
In dieser Gilde lehrte man mich die anspruchsvolle Kunst des Raidens, bei der wir uns in einer 25-Mann (Frau) starken Gruppe als Schlachtzug den stärksten und fiesesten Bossgegnern dieses Spiels stellten.
Ich erinnere mich noch genau an den ersten Raid, den ich mit dieser Gilde erleben durfte: Es war in Naxxramas und ich fühlte mich sofort als vollwertig aufgenommenes Mitglied wohl.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, was ich dort tat und alle waren sehr geduldig mit mir. Diese Art von Spielweise bot einen unglaublich ansteckenden Anreiz und mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte immer besser werden.
Die freundliche und lustige Atmosphäre, die ich in der Gilde erfuhr, schweißte uns nur mehr zusammen, wenn wir nach Stunden der Strapazen in etlichen Versuchen den begehrten Boss unter lautem Tosen im Teamspeak endlich erlegten. Es bestand ein Teamgeist, vergleichbar einer Sportmannschaft, die gemeinsam Erfolge sammelt und dadurch stärker zusammenwächst.
Ich glaube, ich erfülle DAS WoW-Klischee
So erinnere ich mich aufgrund dieser starken Bande und schließlich auch geknüpften Online-Freundschaften an nächtliche, bis in die Morgenstunden dauernden Streifzüge durch Raid-Instanzen, verrückte Herausforderungen die wir uns selbst auferlegten oder an Beutezüge nach seltenen Reittieren oder Items in längst verlassenen Instanzen.
Wir hockten gemeinsam im Teamspeak, philosophierten über Gott und die Welt bis die Sonne aufging, Essen wurde ein nebensächlicher Prozess, der oftmals mit einer Backofen-Pizza befriedigt wurde, und den Tag über wurde geschlafen.
Dies alles geschah zum Leidwesen meiner Eltern, die mich ermahnten, nicht ewig vor dem Computer zu sitzen, meiner Beziehung, die natürlich mit Konflikten konfrontiert war und letztendlich meines Studiums, welches oftmals in den Hintergrund trat. Rückblickend wahrscheinlich ein fataler Fehler.
Auch wenn ich es damals nicht wirklich realisierte, muss dieser Umstand für nahestehende Personen sehr belastend gewesen sein.
Hilfe, ich habe ein Problem
Ich war schwach, so schwach. Mir fehlte die Fähigkeit mich zu maßregeln, und das alles wegen einer virtuellen Welt, die sich in vielen Situationen so viel besser anfühlte als die reale Welt.
Ich denke, darin liegt auch das Gefahrenpotenzial des Spiels. Ich erhalte Erfolgsgefühle durch gewonnene Errungenschaften in der Spielwelt, gepaart mit einem vermeintlich gedeckten, sozialen Bedarf, da ich Zeit mit Menschen verbringe, die dieselbe Leidenschaft teilen. Die räumliche Distanz und gewissermaßen gefühlte Anonymität, fördern eine Offenheit, die ich in realer menschlicher Interaktion wahrscheinlich nicht an den Tag legen würde. Eine explosive Mischung.
Meine exzessive Phase, welche sich über einen längeren Zeitraum erstreckte (wahrscheinlich habe ich die gesamten Semesterferien vergeudet), gipfelte in einem Moment, als unser Internet nicht verfügbar war und ich an einem für mich essenziellen Raid nicht teilnehmen konnte.
Ich stand mit meinem damaligen Freund vor einem Einkaufsladen und regte mich grundlos und übertrieben über eine Nichtigkeit auf. Da dämmerte mir: Ich habe offenbar Entzugserscheinungen. Und ich realisierte erstmals, dass mein Konsum nicht mehr verhältnismäßig oder besser gesagt, gesund war. Vielleicht hätte ich mir diese Erkenntnis rückblickend früher gewünscht.
Sehnsüchtig blicke ich zurück, doch Vergangenheit bleibt Vergangenheit
Zunächst sei gesagt: Ich bereue nichts.
Mit dem Release von World of Warcraft Classic drängten sich mir die Gedanken auf, ob ich nun auch mal wieder einen Blick in die einzigartige Welt von WoW wagen sollte. In meinem Umkreis freuten sich alle auf den Release, wir diskutierten angeregt über das Thema und erinnerten uns an schöne, einprägsame Momente.
Doch kann ich die schlechten Auswirkungen, die dieses wirklich fantastische Spiel damals auf mich hatte, nicht einfach ausblenden. Ich mag älter und weiser geworden sein und würde es heutzutage bestimmt klüger und gesünder handhaben, doch muss ich mir auch eingestehen, dass ich mich weiterentwickelt habe und die Erfahrungen von damals nicht wiederholbar sind. Eine andere Zeit, ein anderes Leben.
Ich werde das WoW von früher so in Erinnerung behalten, wie ich es endgültig verlassen habe. Mit wundervollen und freudigen Momenten und einer bitteren Erkenntnis, die mich zum Besseren geprägt hat.
Bitte berichtet mir von euren, hoffentlich ähnlichen Erfahrungen, damit ich mich nicht alleine mit dem Gedanken fühle, ein Teil meines Lebens für flüchtigen Spaß vergeudet zu haben.