Mit dem EV9 hat Kia sein vollelektrisches Schlachtsch… – Ich meine natürlich: Flaggschiff – auf den Markt gebracht. Das Elektro-SUV überzeugt mit einer gigantischen Batterie, drei Sitzreihen, jeder Menge Platz im Innenraum und ist technisch voll auf der Höhe. Im Test des EV9 sind mir trotzdem ein paar Dinge sauer aufgestoßen.
- 1.Kia EV9: Diesen Testwagen bin ich gefahren
- 2.Das Wichtigste zum Kia EV9 in Kürze
- 3.Kias EV9 ist eine Wucht – das hat mich trotzdem gestört
- 3.1.Digitaler Rückspiegel
- 3.2.Was ist bitte los mit der Alarmanlage?
- 3.3.Wie lädt man ein riesiges E-Auto am besten?
- 4.Meine ganz persönlichen Highlights beim Kia EV9
- 4.1.Ladegeschwindigkeit: An der Ladesäule geht’s richtig ab
- 4.2.Sitzen wie im Lkw, Fahrgefühl wie ein Kompaktwagen
- 4.3.Ambient-Sounds für Digital-Detox in der Ladepause
- 4.4.Der Seitenwind-Assistent ist ein Traum, der jedem Anfänger die Angst vor SUVs nimmt
- 4.5.Platz, Platz, Platz – und der wird gut genutzt
- 5.Der EV9 hat ein gewaltiges Problem: Ich verstehe ihn einfach nicht
Fazit: Der EV9 ist zurecht Kias Aushängeschild – aber
Ob als (Groß-)Familienauto, luxuriöse Chauffeurskutsche oder elegantes Raumwunder mit jeder Menge Ladevolumen – der EV9 macht in jedem Fall eine gute Figur – ein Aushängeschild eben, das diesen Titel verdient. Wer sich für den EV9 entscheidet, muss aber wissen: Auf längerer Strecke werdet ihr selbst mit der rasanten Ladegeschwindigkeit des E-SUVs einige Zeit an der Ladesäule verbringen. Denn ein Ausdauerläufer ist der EV9 einfach nicht, der Verbrauch ist dafür trotz riesiger Batterie zu hoch.
Ich kann ihn mir daher vor allem als Dienstwagen vorstellen, mit dem Konzerne ihrer Flotte eine Besonderheit beimischen können, ohne auf langen Strecken eingesetzt werden zu müssen. Gäste, die mit diesem E-SUV kutschiert werden, fühlen sich mit Sicherheit willkommen.
Vorteile:
- 800-V-Ladetechnik
- großes Raumangebot
- optionale Akku-Vorkonditionierung integriert
- riesige 99,8-kWh-Batterie
- viele Optionen zum Personalisieren
Nachteile:
- hoher Verbrauch und ungenaue Darstellung des aktuellen Verbrauchs
- schwache Rückspiegelkamera
- hoher Ladenaschluss
Kia EV9: Diesen Testwagen bin ich gefahren
Kia hat mir den EV9 in folgender Konfiguration zur Verfügung gestellt:
- 99,8-kWh-Batterie
- AWD
- Ausstattungslinie GT-line Launch Edition
- Sitz-Paket „Swivel“
- Modelljahr 2024
- Preis: 84.180 Euro
Das Wichtigste zum Kia EV9 in Kürze
- Maße: 5,02 m lang, 1,98 m breit (ohne Außenspiegel), 1,78 m hoch, 3,1 m Radstand
- Leistung: 283 kW
- Batterie: 99,8 kWh Netto-Kapazität
- Ladeleistung: bis zu 210 kW dank 800-V-Bordarchitektur
- Reichweite: maximal 505 km (AWD), bis zu 563 km (RWD), im Alltag deutlich weniger
- Gepäckvolumen: 333 bis 2.393 l (!)
Kias EV9 ist eine Wucht – das hat mich trotzdem gestört
Eins vorweg: Beim Kia EV9 meckere ich auf ganz hohem Niveau. Das E-SUV ist extrem ausgereift und lässt wirklich wenig zu wünschen übrig. Für jenseits von 80.000 Euro dürfen Kunden aber auch hohe Ansprüche mitbringen – und da fallen dann eben auch Kleinigkeiten ins Gewicht.
Digitaler Rückspiegel
Wer im EV9 in den Rückspiegel schaut, hat die Wahl: klassischer Spiegel, der automatisch nachts abdunkelt – oder einmal kurz den Hebel unterm Spiegel umgelegt und ihr nutzt die rückwärtige Kamera als digitalen Spiegel. Klingt cool, ist aber leider praktisch nicht zu gebrauchen.
Lässt die Tiefenwahrnehmung schon in normalen Spiegelbildern zu wünschen übrig, macht der Blick auf den folgenden Verkehr per Kamera dabei noch erhebliche Abstriche. Die Bildqualität lässt obendrein zu wünschen übrig, schon bei idealen Verhältnissen. Nachts, bei Regen oder sonst schlechten Sichtverhältnissen ist der digitale Rückspiegel schlicht und einfach unbrauchbar und damit eigentlich überflüssig.
Überhaupt habe ich mit der Rückspiegel-Partie im EV9 so meine Probleme gehabt. Denn der Spiegel nimmt auch beim Blick nach vorne für mich ungewohnt viel Platz ein. Beim Blick nach rechts vorn verschwindet ein ordentlicher Teil des Geschehens dahinter. Das Problem hat nicht nur Kia, es findet schließlich seit Jahren Einzug in theoretische Prüfungsunterlagen zum Führerschein. Aber im EV9 ist es mir besonders aufgefallen.
Was ist bitte los mit der Alarmanlage?
Während meines einwöchigen Tests hat sich mehrmals die Alarmanlage gemeldet. Einen Grund dafür habe ich nicht feststellen können. Ob es eine Automatik gibt, die eingreift, wenn sich der Schlüssel zu lange in der Nähe oder außerhalb der Reichweite des Keyless-Systems befindet, ohne dass der Schlüssel im Wagen ist oder ohne, dass der Wagen abgeschlossen wird?
Vielleicht ist auch einfach nur die Empfindlichkeit der Alarmanlage sehr hoch eingestellt gewesen und hat schon auf Blätter oder kleine Äste reagiert, die sich dem EV9 zu weit genähert haben? Eine Antwort auf diese Fragen habe ich trotz stundenlanger (!) Internetrecherche und mit Hilfe des Fahrzeughandbuchs nicht finden können.
Letztlich musste ich es einfach darauf ankommen lassen, dass der EV9 nicht die Nachbarschaft nachts aus den Betten reißt. Denn auf die Einstellungen zur Alarmanlage konnte ich als Tester über die Fahrzeugkonfigurationen nicht zugreifen.
Wie lädt man ein riesiges E-Auto am besten?
Beim Aufladen des EV9 bin ich über ein unerwartetes Problem gestolpert: Ihr solltet dank der beträchtlichen Größe des E-SUV auf jeden Fall das Ladekabel manuell arretieren. Denn bei einem so hohen Fahrzeug ist auch der Ladeanschluss hoch über dem Boden angesetzt. Ein Schnellladekabel mit stattlichem Eigengewicht rutscht da schnell mal ein paar Millimeter aus dem Ladeanschluss und schon ist der Kontakt unterbrochen, der Ladevorgang wird beendet.
Die Lösung ist einfach: Kabel einstecken, Feststellung aktivieren und ihr könnt euch entspannt einen Kaffee holen oder im EV9 massieren lassen, während der Akku gefüllt wird. Wer es vergisst, könnte nach einer halben Stunde vermeintlicher Ladezeit aber vor einer unschönen Überraschung stehen.
Alternativ könnt ihr auch ganz nah und im richtigen Winkel zur Ladesäule parken, damit das Eigengewicht des Kabels euch nicht den Ladevorgang verdirbt. Aber das erfordert schon Einiges an Geschick und Geduld.
Meine ganz persönlichen Highlights beim Kia EV9
Klingt bisher, als hätte ich eine Menge am EV9 auszusetzen, oder? Aber wie gesagt, das sind Kleinigkeit, an die man sich entweder anpassen kann oder lernt, mit ihnen zu leben. Doch der EV9 hatte für mich auch ein paar echte Highlights zu bieten:
Ladegeschwindigkeit: An der Ladesäule geht’s richtig ab
Der Kia EV9 kann, die passende Ladesäule und ideale Bedingungen vorausgesetzt, mit bis zu 210 kW laden. Das ist eine echte Ansage. Aber selbst an einer 150-kW-Schnellladesäule geht es mit der Ladestandsanzeige zügig aufwärts. Die 800-V-Architektur, auf die der Hyundai-Konzern von Anfang an gesetzt hat, zahlt sich aus.
Bei der Größe der Batterie im EV9 braucht es aber auch einfach eine schnelle Auflademöglichkeit. An der 50-kW-Ladesäule – auch das gilt zumindest dem Namen nach als Schnellladesäule – dauert es bereits eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr wieder starten könnt. Nicht auszudenken, wie lang der EV9 an einer Haushaltssteckdose laden müsste.
Die Lade-Performance bei 150 kW hat mich beeindruckt. Da muss sich keiner Sorgen machen, beim Warten auf den EV9 alt zu werden. Dafür sorgt auch die Akku-Vorkonditionierung, die bei geführter Navigation dafür sorgt, dass der Akku rechtzeitig zum Stopp an der Ladesäule möglichst ideal temperiert ist.
Sitzen wie im Lkw, Fahrgefühl wie ein Kompaktwagen
Die Sitze im EV9 unterstreichen den Premiumanspruch, den Kia mit dem E-SUV verbindet. Das gilt nicht nur, aber vor allem für die erste Reihe. Ergonomische Sitzform ist da schon Pflicht, ihr könnt die Sitzposition außerdem sehr kleinteilig anpassen – auch in der Breite der Rückenlehne.
Wer möchte, kann sehr sportlich sitzen, aber vor allem die aufrechte Position fast wie in einer modernen Lkw-Fahrerkabine hatte es mir angetan. Ihr habt dann automatisch eine bessere Haltung und gute Übersicht. An Komfort mangelt es trotzdem nicht.
Apropos Lkw: Wer sich wegen der Größe des EV9 um den Fahrspaß sorgen macht, kann zumindest in der GT-line beruhigt sein. Trotz Masse und Gewicht fährt sich der EV9 spritzig wie ein kleiner Kompakter und die starke Motorisierung macht richtig Spaß beim Ampelsprint.
Besonders praktisch auf längeren Fahrten ist die Massagefunktion. Ihr könnt euch zum Beispiel in 30- oder 60-Minuten-Intervallen automatisch eine Lendenwirbelsäulen-Massage einstellen – allerdings nur für den Fahrer. Auch in der zweiten und dritten Reihe müsst ihr aber keine unbequeme Fahrt fürchten. Alle Plätze im EV9 sind hochwertig und sehr bequem.
Die beiden Sitze der zweiten Reihe könnt ihr in der Swivel-Ausführung außerdem um 180 Grad nach hinten drehen – praktisch für eine längere Pause oder bei Ausflügen mit der Familie. Bei umgelegter dritter Sitzreihe wird so aus dem Stauraum eine Lounge für zwischendurch.
Ambient-Sounds für Digital-Detox in der Ladepause
Mit Ambient-Light und vorprogrammierten Sounds ausgestattet lässt sich der EV9 individuell stark auf euch und eure Wünsche anpassen. Sowohl während der Fahrt als auch in Pausen habe ich mich für ein entspanntes Innenleben entschieden:
Nettes Gimmick: Ihr könnt die Farbe der Ambient-Beleuchtung auch an den Fahrmodus koppeln. Segelt ihr entspannt dahin, herrscht dann Blau vor, während der EV9 im Sport-Modus – wie sollte es anders sein – auf Rot schaltet.
Der Seitenwind-Assistent ist ein Traum, der jedem Anfänger die Angst vor SUVs nimmt
Machen wir uns nichts vor: Der EV9 von Kia ist ein echter Koloss. Zwar wirkt er im Zeitalter der SUVs nicht aus der Art geschlagen. Aber ein größeres Elektromodell werdet ihr auf deutschen Straßen wohl nur sehr selten sehen. Das bringt nicht nur Vorteile mit sich, denn der hohe Aufbau und die große Seitenfläche müssten den EV9 eigentlich zum Opfer von Seitenwinden machen.
Doch Kia hat vorgesorgt. Zur wirklich umfangreichen Assistenzausstattung gehört auch ein Seitenwind-Assistent. Der leistet ganze Arbeit: Selbst im winterlichen Sturm habe ich auf der Autobahn praktisch nichts davon gespürt, dass der Wind heult. Auch Lkw überholen ist überhaupt kein Problem. Der EV9 saust völlig ungestört dahin und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Das überträgt sich. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal so entspannt gefahren bin wie im E-SUV von Kia.
Platz, Platz, Platz – und der wird gut genutzt
Der EV9 bietet jede Menge Platz – kein Wunder, bei der Größe. Aber er ist eben auch sinnvoll durchdacht. So findet ihr von der ersten bis zur dritten Reihe immer eine USB-C-Buchse in Reichweite, an der ihr etwa euer Handy aufladen könnt. Sowohl vorn als auch im Kofferraum könnt ihr über gewöhnliche 12-V-Anschlüsse verschiedene Geräte laden.
Besonders gut gefallen haben mir die riesigen Getränkehalter und das Qi-Ladepad an der Mittelkonsole:
Die verstellbaren Sitzreihen, ein Panoramadach, verdunkelte Fenster sowie zusätzliche Sonnenblenden sorgen dafür, dass der ganze Platz im EV9 eben nicht nur bloßer Stauraum ist. Vom mobilen Büro bis zum Zentrum eures Camping-Ausflugs sind viele Anwendungen denkbar. Für letzteres könnt ihr den EV9 auch in einen Lademodus versetzen, in dem ihr die Energie aus dem E-Auto-Akku anzapfen könnt.
Auch ein gängiges Fahrrad findet hinter der ersten Reihe genügend Platz, wenn ihr mal allein unterwegs seid. Ein Hollandrad sollte es aber nicht sein, da wird es dann beim Einladen doch problematisch.
Der EV9 hat ein gewaltiges Problem: Ich verstehe ihn einfach nicht
Das vielleicht größte Problem, vor das mich der EV9 stellt, ist nicht Kias Schuld. Es ist vielmehr ein Branchenproblem. Das Elektro-SUV ist riesig, schwer und bietet jede Menge Platz für Mitfahrer und Gepäck. Größe, Gewicht und die angesagte Kastenform schlagen sich aber in einem Stromhunger nieder, der sich gewaschen hat.
Kia gibt für die GT-line 22,8 kWh pro 100 km im kombinierten Verbrauch (Stadtverkehr und Autobahn) an. Für die Stadt kommt das hin, sogar deutlich unter 20 kWh sind realistisch, wenn ihr nur innerorts von A nach B wollt.
Auf der Autobahn sind diese Werte aber Wunschdenken. Hier fahrt ihr praktisch durchgehend mit über 30 kWh. Für eine meiner geplanten Testfahrt ging es praktisch nur über die Autobahn, für rund 290 km. Wenn da bei 96 Prozent Akkustand zu Beginn der Fahrt bereits die Warnung vom Navi kommt, dass wahrscheinlich ein Zwischenstopp zum Laden nötig ist, zeigt der EV9 sein wahres Gesicht: Er ist ein Stromfresser.
Immerhin ist in diesem Fall die Selbsteinschätzung im Nachhinein korrigiert worden, die Strecke habe ich in einem Rutsch geschafft. Die etwas mehr als 360 km Reichweite, die der EV9 bei vollem Akku angibt, sind also ziemlich verlässlich.
Zu schwer sollte euch der Fuß am Gaspedal aber nicht werden. Auf dem Rückweg über die gleiche Strecke – Außentemperatur etwa 5 Grad und einen ungünstigen stürmischen Tag erwischt – hatte ich den Tempomat meist auf 130 km/h laufen. Unter winterlichen Bedingungen könnt ihr dem Akkustand wirklich beim Schrumpfen zusehen. Das ist kein schönes Gefühl.
In der Standardansicht kriegt ihr beim EV9 außerdem keine genauen Angaben über euren aktuellen Verbrauch. Lediglich eine Skala von 0 bis 45 kWh wird eingeblendet, auf der sich euer Verbrauch bewegt. Zwischenschritte bei 15, 20 und 25 kWh geben euch einen Anhaltspunkt, aber das wars.
Im stürmischen Wetter bei 130 km/h lag der Verbrauch auf meiner Fahrt oft außerhalb der Skala. Mindestens 45 kWh hat der EV9 da also geschluckt, wenn nicht sogar noch deutlich mehr. Man muss kein Mathematik-Genie sein um sich auszurechnen, dass so nur knapp über 200 km Reichweite drin sind.
Mein Problem: Entweder brauche ich für kurze Strecken im Alltag eher wenig Platz und Komfort. Oder ich brauche viel Platz und viele Zusatzfunktionen für eine lange Reise – dann müssen aber auch ordentliche Strecken möglich sein. Der EV9 ist ein Raumwunder, legt viel Wert auf eine angenehme Fahrt für alle Insassen. Aber für die Langstrecke ist aus meiner Sicht nicht wirklich geeignet. Hier passt einfach die Ausrichtung nicht zusammen.